PASSAGE 2011
„Whatever you think there is a world elsewhere.”
Shakespeare
Ein Boot steht auf dem Kirchhof. Es ist weit gereist und in Bozen angekommen. Betrachtet man es genau, denkt man nicht unbedingt an ein Kunstwerk. Man ist an ein großes Kinderspielzeug erinnert, an etwas Unwirkliches, auf jeden Fall Verrücktes. Seine Farbe ist rot, die Form skizzenhaft gehalten. Es ist selbstgebaut und erhält seine wirkliche Bedeutung erst in Venedig, wo es demnächst ankommen und unter anderen „richtigen“ Booten auf dem Canale Grande schaukeln wird. Heute ist es noch ein Zeichen, das für etwas anderes steht, für ein Geheimnis, das es zu ergründen gilt.
Als Theatermensch bin ich es gewohnt, die Welt mit Kinderaugen zu sehen. Das ist nicht einfach, wenn man bedenkt, wie oft wir am Tag ungefragt „überfallen“ werden von unwichtigen Informationen, wie oft wir suchen müssen nach der wahren Botschaft hinter den Zeichen. Auch am Theater suchen wir das Eigentliche stets hinter den Worten, im ungeschriebenen Text, im inneren Drama zwischen den Zeilen.
Machen wir uns also auf die Suche nach einer möglichen Wahrheit: Es kam ein Boot über die Berge nach Bozen. Es kam nicht „just like the cow jumped over the moon“, wie Fitzcarraldo in dem gleichnamigen Film von Werner Herzog bemerkt. Nein. Die Künstler Wolfgang Aichner und Thomas Huber haben es durch Schnee, Eis und Geröll gezogen. Die schwere und sicher auch gefährliche „Arbeit“ müssen wir sehen, wir müssen sie uns vorstellen, um den wahren Sinn ihres Unterfangens zu begreifen. Die Künstler befinden sich nicht in einem Boot, sondern beide bewegen sich außerhalb desselben. Das Boot ist eine Last, eine Bürde, eine Aufgabe, die sich die zwei Menschen gestellt haben. Damit geraten sie und das, was sie tun oder bislang getan haben, es gerät die Handlung an sich in den Mittelpunkt meiner Betrachtung.
Liest man über die Anfänge des Theaters, so erfährt man bei Aristoteles, dass zwei Ursachen das Theater hervorgebracht haben: Die Nachahmung – sie ist uns angeboren – und die Freude an der Nachahmung. Die Darsteller ahmen auf der Bühne Handlung nach, Vorgänge des Lebens, und die Zusammenfügung dieser Geschehnisse ist der Mythos. Die Tragödie ist zum Beispiel Nachahmung einer guten Handlung, die Jammern und Schaudern hervorruft und auf diese Weise eine Reinigung von solchen Zuständen beim Zuschauer bewirkt. Sie ist kein Bericht, sondern vollzieht sich im Dialog. Sie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern – ich betone – von Handlung, von Lebenswirklichkeit. Es geht um das, was den Charakter eines Menschen formt, das was ihn zu einem ganz bestimmten Menschen macht. Nun ahnen Sie vielleicht meinen gedanklichen Bogen zum transalpinen Drama der Künstler Wolfgang Aichner und Thomas Huber. Denn die beiden – so nehme ich an – verstehen sich vordergründig als Handelnde, und ihre Aktion ruft ohne Zweifel gleich mehrere Mythen hervor.
Von Roland Barthes wissen wir, dass Mythen eine ungeheure Kraft besitzen. Obwohl sie im Allgemeinen mit Hilfe unvollständiger Bilder arbeiten, suggerieren sie eine universale Ökonomie und haben nur einen Zweck, nämlich die Welt unbeweglich zu machen: „So wird an jedem Tag und überall der Mensch durch Mythen (...) auf den unbeweglichen Prototyp verwiesen, der an seiner statt lebt und ihn gleich einem ungeheuren inneren Parasiten zum Ersticken bringt, seiner Tätigkeit enge Grenzen vorzeichnet, innerhalb derer es ihm erlaubt ist zu leiden, ohne die Welt zu verändern“ (Mythen des Alltags).
Wolfgang Aichner und Thomas Huber haben auf ihrer Tour sicherlich auch gelitten. Inwiefern sie mit der Aktion trotzdem die Welt verändern möchten, ist die Frage? Vielleicht indem sie mit den Mythen auf geschickte Art und Weise spielen? Sie fortschreiben oder gar mit ihnen brechen? Einen künstlichen, neuen Mythos dagegen setzen? Indem sie nicht wie Sisyphos den Stein ewig den Berg hinauf rollen, sondern den Berg gemeinsam überwinden und an einem Ziel ankommen? Die Welt dadurch wieder beweglich machen? Die beiden setzen alles aufs Spiel. Sie demonstrieren eine trotzige und zugleich lustvolle Selbstbehauptung. Vielleicht wollen sie Kunst mit harter Arbeit und nicht mit Kommerz verbinden? Ich meine, dass es ihnen um Verantwortung geht, Verantwortung für den eigenen Weg in der Kunst und im Leben. Jeder wird ihn selbst gehen müssen, um seine Wahrheit zu erfahren. Natürlich ist dieser Weg eine Prüfung, ein Ausloten von Grenzen. Das Drama auf dem Berg erzählt ja die Hauptsache. Wir können es nur erahnen. Gewiss ist jedenfalls, dass die Künstler mit der Aktion einen neuen Mythos geboren haben, an dem sich andere in Zukunft abarbeiten werden, um die Welt in Bewegung zu halten und hoffentlich auch zu verändern.
IT
21. Juni 2011 Bozen
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