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6/27/2011

Nachbetrachtung I (Bozen)


„Wir sehen jetzt in einen Spiegel, wie in einem dunklen Wort“, so schreibt Paulus am Ende seines berühmten Hoheliedes im Korintherbrief: „wir sehen jetzt in einen Spiegel, wie in ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“
Am letzten Dienstag hatten wir die passage2011 bei uns zu Gast, jene zwei Männer, Wolfgang Aichner, und Thomas Huber, haben es geschafft, rechtzeitig im Zeitplan im Hinblick auf die Wasserung im Canale Grande zur Biennale, vom Berg zu kommen. Sie hatten mit ihren bloßen Händen seit dem 25. Mai, also etwa 4 Wochen, bei dem schlechtesten Wetter, ein 150 Kilogramm schweres Boot über den Nevesattel (3100m) gewuchtet, wir haben hier das Boot am Dienstag einmal um die Kirche getragen – mit 20 Leuten, es ist immer noch schwer gewesen.
Am Abend haben wir dann mit einer illustren Runde über dieses „transalpine Drama“ unter dem Motto: „Das Boot, der Berg und der Glaube“ diskutiert. Zwischenzeitlich ist es am Donnerstag im Canale vor der Kirche St. Angelo die Custode und angekommen und dort gesunken in einem lustigen Spektakel. Jetzt ist es im Venediger Gemeindesaal mit den Filmdokumentationen vom Berg zu sehen.
Ich möchte hier noch einmal auf die Spur der Frage mit ihnen gehen, was dies alles mit dem Glauben zu tun hat. Nicht nur, weil wir diese Frage am Dienstag erst angedacht, und keinesfalls nur im Ansatz beantwortet hat.
Glaube kann auch sein wie der Blick in einen Spiegel, sagt Paulus, Lebensbetrachtung, Selbstbetrachtung, in der wir uns nie ganz, sondern nur stückweise erkennen. Es könnte ein dunkler Spiegel gemeint sein, mit matten Stellen, so vermuten die Exegeten, wie etwa poliertes Metall. Glauben ist wie die teilweise Selbsterkenntnis in einem Spiegel, mit der Aussicht, sich und sein Dasein eines Tages ganz zu begreifen im gegenüber Gott von Angesicht zu Angesicht. Mit dem Traum, dass uns Gott liebevoll und gnädig ansieht, kann dieser forschende Glauben, wer bin ich wirklicb bei Gott, eine ganz erhebende Reise sein.
Nun gibt es einen spannenden Doppelsinn im griechischen hier, den Luther in seiner Übersetzung noch voll augeschöpft hat. Wir schauen jetzt in einen Spiegel wie in ein dunkles Wort, schreibt er. Bruchstücke des Selbst- und Fremderkennens sind geprägt von dunklen, das heißt undurchsichtigen, mutmaßlichen, geheimnissvollen Worten. Salopp gesagt: wenn es ans eingemachte geht bei einem selbst, dann beginnt man leicht zu stammeln und nach Worten zu ringen, die Worte bleiben dunkel. Nur Mut zum Stückwerk, denn das ist Glaube wesentlich: nicht nur die klare, direkte Antwort, sondern auch die suchenden, tastenden Frage!
Auch moderne Kunst, diese darstellende Performance-Kunst, hält auf ihre Weise der Welt, der Gesellschaft den Spiegel vor. Und bruchstückhaft können wir mittels des dunklen Bildes, auch der passage2011, etwas von uns und an uns erkennen.
Diese dramatisch szenische Art, die Gesellschaft mit Aktionen im Freien zu spiegeln, beherrschten übrigens schon die Propheten. Beschrieben ist das im Alten Testament in den sogenannten prophetischen Zeichenhandlungen. Gott sagt zu Ezechiel: „Ich will dich zu einem Wahrzeichen machen für Israel!“ Entsprechend können heute Künstler lebende Wahrzeichen, dunkle Spiegelbilder sein auf unser Leben. Wenngleich sie, das muss man eingestehen, selten sehr ausdrücklich eine Berufung Gottes vor sich hertragen. Aber wer weiß?! Wir tragen sicher unseren christlichen/Glaubenskosmos hinein in die Kunst, wie wir dies in vielen Teilen unseres Lebens mehr oder weniger ausdrücklich immer tun. In diesem Sinne können Künstler in uns den fragenden, suchenden Glauben verstärken, wenn wir nur den Eindruck gewinnen, dass Sinn machen könnte, was wir sehen!
Ein, zwei mögliche Glaubenssinne dieser Zeichenhandlung möchte ich ihnen, wiederum im Gespräch mit einem dunklen biblischen Wort, dem Schöpfungspsalm 8 jetzt nahe bringen.
„Wenn ich sehe deiner Hände Werk, die Gestirne, die du gemacht hast, was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass Du dich seiner annimmst?“ beschreibt der Psalmist die Verhältnisse von Mensch und Natur, von Mensch und göttlichem Kosmos. Betrachte ich Aichner und Huber beim Wuchten des Bootes über Geröll in der Weite des Gebirges, so drängt sich mir auch dort die Frage auf: Was is der Mensch? Was macht er? Was will er? Was treibt er blos?
Auch in Psalm 144 kommt dieser Gedanke noch einmal vor: „Was ist der Mensch, dass Du dich seiner annimmst, und des Menschen Kind, daß du ihn so achtest? Ist doch der Mensch gleichwie ein nichts. Seine Zeit fähret dahin wie ein Schatten. Herr, neige deinen Himmel und fahre herab, taste die Berge an, dass sie rauchen.“ 
 „Ist doch der Mensch gleichwie ein Nichts.“ Jene Botschaft vermeint Rheinhold Messner im Buddhismus zu finden, und inszeniert diesen nihilistischen Gedanken in seiner Ausstellung auf Sigmundskron.
Aber es gibt Alternativen, die unserem protetantischen Glauben wohl mehr entsprechen. Noch einmal der andere Psalm 8:
„Wenn ich sehe Deiner Hände Werk? Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst? Und des Menschen Kind, dass Du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig niedriger gemacht als dich und mit Ehre und Herrlichkeit hast Du ihn gekrönt.“
„Mit eigenen Kräften“, wurde immer wieder im Nachgang des Gesprächs am Dienstag festgehalten, mit eigenen Kräften haben diese Männer das geschafft, bis an und über die Grenze ihrer Belastbarkeit sind sie gegangen, um das unmögliche zu tun. Bar jeder Sinnversprechen unabhängig und selbstbestimmt über sich selbst hinausgewachsen, auch durch die mentale Kraft des An- Etwas-Glaubens.
Das Projekt ist eine weitere Variante der Aufforderung Gottes: „Macht Euch die Erde untertan.“ Und sie ist zugleich ein Zerrspiegel dieser Bewegung, die wir alle tagtäglich vollführen: Hochgradig unangepasst an unsere Naturräume, über winden wir die Widerstände der Natur. Mit einem Boot über den Berg nach Venedig, warum einfach, wenn es auch schwer geht? Weil wir noch etwas anderes wollen als Menschen, über uns hinauswachsen, auf Gott hin mit Techniken der Kultur, die Risiken in sich bergen. Ja, wir können auch anders! Flugzeuge bauen, Herzen transplantieren, Schiffe übers Gebirge ziehen. Warum das alles? Zum Wohl des Menschen, aber auch für Ruhm und Ehre. Denn: „Du hast ihn nur wenig niedriger gemacht als dich und mit Herrlichkeit und Ehre hast Du ihn gekrönt. Du hast ihm zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk. Alles hast Du unter seine Füße getan.“, heißt es in Psalm 8.
Von welcher Ehre, von welchem Ehrgeiz mache ich mich abhängig? Indem die Handlung der Künstler die absurde Anstregung abbildet, auf der Biennale Helden zu werden, in den Olymp der schönen Künste aufzusteigen, ist sie – auch in ihrer parodistischen Note - in gewisserweise Religionskritik. Kritik am Götzendienst des Kunstbetriebs, deren Verehrung Opfer bis an die Selbstaufgabe fordern.
„Ist die Aktion gottlos?“, fragte eine Teilnehmerin des Gesprächs. Gottlos, nein, würde ich sagen. Und die Frage verändern in: Welchem Gott dienen wir? Im Sinne der Bestimmung Martin Luthers: Woran Du dein Herz hängst, das ist Dein Gott!  
Ein Thema für uns alle, immer wieder in dieser Welt der haltlosen Selbstüberschätzung. Aber auch umso notwendiger zu betonen: wir dienen auch schon dem anderen Gott, dem einen, der uns mit Gaben beschenkt, die wir einander weiter geben können.
Es ist nicht nur die Gabe der Zweisamkeit, die die beiden Künstler in außergewöhnlicher Weise, ich würden sagen, wie Brüder im Herrn leben. Es ist auch die Gabe der Zuwendung, die ihnen durch Menschen auf dem Weg zugewachsen ist, sei es, in der ländlichen Bevölkerung in Tirol, wo sie gerackert haben, und dafür von den Landsleuten Respekt erfuhren, wie sie immer wieder glücklich erzählten.
Die Gabe der Zuwendung: Sei es im Nachdenken und Sprechen, sei es in der nächtliche Massage für den geschundenen Rücken, sei es in der wöchentlichen Wache über dem Werk in Venedig, sei es im Aushalten zuhause. Auch das bildet etwas entscheidendes ab von Glaube, von Liebe. Die Fähigkeit, die Lust zur Gabe schöpft aus einem Geist, der verbindet und belebt.
Für uns an der passage2011 passiv/aktiv Beteiligte ist es also auch eine, zugegeben vielleicht etwas fremde Art geistliche Übung. Mich erfüllt es mit Freunde, dass wir den Kunst-Pilgern Gastgeber sein durften. Denn all das zeigt uns eine andere Herrlichkeit des Menschen als die Selbstliebe des Narziss in der Selbstbespiegelung. Es ist ja kein Zufall, dass der Spiegel, nach Paulus, eines Tages weichen wird und das wirkliche Erkennen nur von Angesicht zu Angesicht in Aussicht steht. Wir sehen jetzt in einen Spiegel wie in ein dunkles Wort, dann aber von Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
Wir sind schon dabei, Menschen dieser Welt, von Angesicht zu Angesicht zu sein, wir lernen einander zu sehen und erahnen, durch dunkle Worte hindurch auf dem Weg, an und mit ihm, an den Ursprung allen Lebens zu glauben!

MF

Photo: passage2011 in front of Christus Kirche, Bozen on June 21, Martin Richartz

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